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Der mieseste Screenshot aller Zeiten

Das Buch Avatars of Story, veröffentlicht 2006 von Regents of the University of Minnesota, enthält auf Seite 153 eine Abbildung von Olia Lialinas My Boyfriend Came Back from the War. Diese Arbeit aus dem Jahr 1996 wurde für den Browser gestaltet und gehört zu den Klassikern ihres Genres. (Siehe Last Real Net Art Museum.) Bilder davon wurden bereits in dutzenden Büchern veröffentlicht, doch diese Reproduktion auf Papier markiert einen qualitativen Tiefpunkt:

"Slightly modified to enhace readability of text" ... war der Text auf dem Bildschirm etwa schwerer lesbar als diese Matschepatsche?

Ausschnitt der Original-Webseite, Screenshot

Bei der gedruckten Version fallen einige Unterschiede ins Auge:

  1. Die Schriftfamilie wurde teilweise geändert.
  2. Der untere Rand des Rahmens im Kasten "Who asks you?" ist nicht mehr vollständig.
  3. Alles erscheint "krümelig" und unscharf

Schauen wir uns den Druck vergrößert an:

Vergrößerung des gedruckten Screenshots

Um die Buchstaben herum sind die typischen Antialiasing-Einschusslöcher zu sehen. Das kommt daher, dass bei weichgezeichneten Buchstaben (mit sog. "Kantenglättung"), wie sie beispielsweise in rauhen Mengen von MacOS X und Windows XP ausgespien werden, nicht nur die Farben Schwarz und Weiss vorkommen, sondern auch graue Zwischentöne.

Vergrößerter Screenshot einer Bildschirmschrift mit aktivierter Kantenglättung

Beim Drucken gibt es aber nur die Farbe Schwarz auf weißem Grund. Die Graustufen kommen als verschieden große und verschieden weit voneinander entfernte Punkte -- also aufgerastert -- aufs Papier:

1. Mit Kantenglättung dargestellte Pixel-Buchstaben, für den Druck aufgerastert
2. In der gleichen Druckauflösung dargestellte Vektorbuchstaben

Folgende Möglichkeiten hätte es gegeben, um die Lesbarkeit einer auf dem Bildschirm weichgezeichneten Schrift auf dem Papier zu verbessern:

  1. Die niedrig aufgelösten Pixelschriften mit Vektorschriften überdecken. Diese würden in der Auflösung des Belichters wiedergegeben werden, also mit mindestens 1500 dpi, und vollkommen ohne Weichzeichnung und den damit zusammenhängenden Einschusslöchern. Das Ergebnis sähe recht anders aus als auf dem Bildschirm, aber, nunja, der Text ließe sich besser lesen. Vergleiche die beiden obenstehenden Bilder.
  2. Einfach vorm Anfertigen des Screenshots die Kantenglättung des Betriebssystems abschalten! Die Schrift bliebe zwar niedrig aufgelöst, aber die Einschusslöcher würden vermieden und das Bild in seiner Darstellung kaum verändert. Selbst wenn für den Buchdruck aus Kostengründen ein grobes Raster gewählt werden müsste, bestünden die Buchstaben nur aus klaren, schwarzen oder weißen Pixeln.

Stattdessen geschah im Falle des besprochenden Screenshots in dem Buch folgendes:

  1. Die auf dem Bildschirm niedrig aufgelösten, weichgezeichneten Buchstaben wurden durch ebenso niedrig aufgelöste und weichgezeichnete Buchstaben ersetzt -- nur in einer anderen Schriftart. Nichts wurde gewonnen, das Bild jedoch dabei verfälscht. (Man beachte zudem die frisch eingefügten Tippfehler: "neighbour" wird zu "neighbor" und vor dem Fragezeichen bei "Who asks you?" gibt es nun ein Leerzeichen.)
  2. Weil die neuen Buchstaben die alten überdecken sollten, wurden erst schwarze Rechtecke als "Grundierung" darübergebügelt. Dabei ging der untere Rahmen des Frames mit "Who asks you?" zu Bruch.
Original und "enhanced readability"

Den Screenshot einfach im ursprünglichen Zustand zu belassen wäre wohl angemessen gewesen. Die ganze Verfälschung des Textbildes bei einer Arbeit, die zum Großteil aus Text besteht, führte zu keinerlei Verbesserung.

Jetzt zum Vergleich eine aufgerasterte Version des besprochenen Ausschnitts, aber ohne Kantenglättung:

Resumée

  1. Im Zweifelsfall: Lasst die Bitmaps in Ruhe!
  2. Anti-Aliasing für Schrift mag auf dem Bildschirm zuweilen angemessen sein. Beim Drucken ist das nicht der Fall.
  3. Dennoch ist es immer noch besser, original-weichgezeichnete Schrift zu drucken, als in dem Screenshot herumzupfuschen. Be schwierig lesbarer Schrift führt eine entsprechende Anpassung der Kennlinien für den Druck zu besseren Ergebnissen.

Antwort auf vorhersehbare Einwände

Leider ist die Firma Apple® Computer wie viele andere der Meinung, dass alle auf dem Bildschirm sichtbaren Bitmaps fotografische Inhalte zeigen. Selbst die Icons sehen auf einem Macintosh® aus wie Fotos. Die MacOSX®-Betriebssystemfunktion zum Darstellen von Bitmaps, die auch von allen Browsern benutzt wird, vergrößert Bitmaps mittels bikubischer Interpolation. Bei Fotos mag das in Ordnung aussehen, führt aber bei vergrößerter Darstellung von niedrig aufgelöster Bildschirmgrafik zur berüchtigten Bikubischen Matsche.

Wer also Dinge im Browser auf einem Apple®-Betriebssystem anschaut, die dort vergrößert und verkleinert werden, und davon einen Screenshot macht, welcher dann gedruckt wird, trägt nicht unbedingt dazu bei, eine Grafik möglichst originalgetreu wiederzugeben. (Genau das ist offensichtlich beim hier diskutierten Screenshot geschehen: Das abgebildete Werk verwendet dynamische Bildgrößen, und die Wiedergabe der Bilder könnte matschiger kaum sein.)

Die meisten Grafiker und Designer verwenden Apple®-Computer und wissen gleichzeitig nichts mehr über die im manischen Anti-Aliasing verloren gegangenen Pixel. Seid so gut und nehmt Euch bei niedrig aufgelöster Bildschirmgrafik die Zeit, eine Lösung zu finden, um die Pixel anständig aufs Papier zu bringen. Danach dürft Ihr wieder Fotos matschen.

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